Einführung | Viktor Frankl

Viktor Frankl (1905-1997) - Biografie

Kindheit in Wien unter Kaiser Franz Joseph I.

Geburtstag

Es ist ein sonniger Sonntagnachmittag im Frühling 1905. Gabriel Frankl und seine hochschwangere Frau Elsa sitzen gemeinsam im Kaffeehaus Siller. Die Wehen setzen ein und sie machen sich auf den Weg nach Hause in die Czerningasse 6. Mühsam steigt Elsa Frankl die Treppen hinauf in den 5. Stock bis zur Wohnung Tür Nr.25. Es ist der 26.März, der Geburtstag von Viktor Emil Frankl.(1)

Wien um 1900

Viktor Frankl wird in Wien geboren. Es ist das Wien, in dem das Kaffeehaus und die privat organisierten Salons als bürgerliche Bildungsstätten ihre große Blüte haben, in dem Persönlichkeiten wie Johann Strauß, Gustav Mahler und Arnold Schönberg komponieren, Sigmund Freud seine `Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie´ veröffentlicht und Alfred Adler seine individualpsychologischen Ansätze entwickelt. Otto Wagner und Gustav Klimt stehen für die Wiener Sezession und Karl Kraus gibt seine satirische Zeitschrift `Die Fackel´ heraus. Viele namhafte Künstler, Wissenschaftler und Denker prägen das kulturelle Leben der Stadt. Für eine kurze Zeit werden auch Trotzki, Stalin und Hitler hier wohnen.
Es ist das Wien, das als Schmelztiegel verschiedenste Nationalitäten beherbergt. Die Menschen kommen aus Böhmen, Mähren, Schlesien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien, um in der kaiserlichen Hauptstadt der Doppelmonarchie einen Lebensunterhalt zu finden.

Stefan Zweig beschreibt diese Zeit in seinen Erinnerungen eines Europäers sehr eindringlich als das goldene Zeitalter der Sicherheit, in dem alles fest und unverrückbar an seinem Platze stand „ … und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. […] Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. […]. Das neunzehnte Jahrhundert war […] ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur >besten aller Welten< zu sein. […] In der Tat […] Auf den Straßen flammten des Nachts statt der trüben Lichter elektrische Lampen, […] schon konnte der Mensch zum Menschen dank des Telephons in die Ferne sprechen, schon flog er dahin im pferdelosen Wagen […] und alle diese Wunder hatte die Wissenschaft vollbracht, dieser Erzengel des Fortschritts. Auch im Sozialen ging es voran […]. Soziologen und Professoren wetteiferten, die Lebenshaltung des Proletariats gesünder und sogar glücklicher zu gestalten - was Wunder darum, wenn dieses Jahrhundert sich an seiner eigenen Leistung sonnte und jedes beendete Jahrzehnt nur als die Vorstufe eines besseren empfand? […] Daß etwas Neues in der Kunst sich vorbereitete, […] daß diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren, welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und schließlich vernichten sollten [merkten wir nicht …]. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit. […]“(2)

In diese Zeit hinein wird Viktor Frankl geboren. Es ist eine Zeit gesellschaftlicher Umbrüche. Und in Auseinandersetzung mit dieser Zeit entwickelt er sein Lebenswerk, die Logotherapie.(3)

Die Mutter

Viktor Frankls Mutter Elsa, geborene Lion, entstammt einem alteingesessenen jüdischen Prager Patriziergeschlecht, dessen Vorfahren sich bis in das 10. Jahrhundert zurück verfolgen lassen. Viele Rabbiner sind darunter, von denen Rabbi Löw, auf Grund seiner Gelehrsamkeit und Wirksamkeit Legendencharakter besaß. Bei der Geburt von Viktor Frankl ist Elsa Frankl 26 Jahre alt. Vier Jahre zuvor hatte sie geheiratet. Ihr erster Sohn Walter ist bei der Geburt Viktors zweieinhalb Jahre alt, ihre Tochter Stella bringt sie vier Jahre später zur Welt.
Frankl verehrte seine Mutter sehr und beschreibt einige Situationen mit ihr in seinen Lebenserinnerungen: „Meine Mutter war ein seelensguter und herzensfrommer Mensch. […] Nachdem mein Vater in Theresienstadt gestorben und ich mit meiner Mutter allein geblieben war, habe ich es mir zum Prinzip gemacht, wo immer ich ihr begegnete und wann immer sie von mir Abschied nahm, sie zu küssen, so daß eine Garantie bestand, daß, wenn uns irgendetwas trennen sollte, wir im Guten voneinander gegangen sind. Als es dann soweit war, und ich mit meiner ersten Frau Tilly nach Auschwitz abtransportiert wurde und mich von meiner Mutter verabschiedete, bat ich sie im letzten Moment: "Bitte, gib mir den Segen." Und ich werde nie vergessen, wie sie mit einem Schrei, der ganz aus der Tiefe kam und den ich nur als inbrünstig bezeichnen kann, gesagt hat: "Ja, ja, ich segne dich" - und dann gab sie mir den Segen. Das war etwa eine Woche, bevor sie selbst ebenfalls nach Auschwitz und dort direkt ins Gas gekommen ist. Im Lager dachte ich sehr viel an meine Mutter, aber wann immer ich daran dachte, wie es sein würde, wenn ich sie wiedersehe, drängte sich mir unabweislich die Vorstellung auf, das einzig Angemessene wäre, wie es immer so schön heißt, in die Knie zu sinken und den Saum ihres Kleides zu küssen.“(4)

Der Vater

Die Großeltern väterlicherseits stammen aus dem südmährischen Dorf Pohrlitz, ín dem der Großvater Jakob Frankl als Buchbinder tätig war. Sein Sohn Gabriel zieht als junger Mann nach Wien, um dort Medizin zu studieren. Das Studium muß er aber kurz vor der mündlichen Doktorprüfung aus finanziellen Gründen abbrechen. Stattdessen tritt er in den Staatsdienst ein. Dort arbeitet er für über zehn Jahre als Parlamentsstenograph, dann weitere 25 Jahre als Privatsekretär des Minister Joseph Maria von Bärenreither. Später wird er mit der Leitung der Ministeriumsabteilung für Kinderschutz und Jugendwohlfahrt betraut. Im Alter von 81 Jahren stirbt er in Theresienstadt nach einer zweiten Lungenentzündung.

Gymniasal-und Studienzeit im “Roten Wien“ 1916 bis 1929

Naturphilosophische Denkansätze und die Psychoanalyse Freuds

1916 beendet Frankl die Volksschule und wechselt auf das Sperlgymnasium. Er ist fasziniert von den Naturphilosophen, vor allem von Gustav Theodor Fechner (1801-1887) und Wilhelm Ostwald (1853-1932). Deren Denkansatz versucht menschliches Erleben mittels naturwissenschaftlicher Experimente zu verstehen. Aus dieser Perspektive auf den Menschen geblickt, ist Liebe nicht mehr als ein Ergebnis eines hormonellen Geschehens im Körper oder das ganze Leben nichts als ein Oxidationsvorgang. Daß solche reduktionistischen Weltanschauungen bei Menschen die Frage nach dem Sinn krisenhaft geradezu hervorrufen können, weiß Frankl aus eigener Jugenderfahrung(5). In seinem Buch, die Ärztliche Seelsorge schreibt er:
„Die Sinnfrage in ihrer ganzen Radikalität kann einen Menschen geradezu überwältigen. Dies ist zumal in der Pubertät häufig der Fall, zur Zeit also, wo die wesenhafte Problematik des menschlichen Daseins dem geistig reifenden und geistig ringenden jungen Menschen sich auftut. Als einmal ein Naturgeschichtslehrer vor einer Klasse der Untermittelschule während des Unterrichtes auseinandersetzte, daß das Leben des Organismus und so auch des Menschen» letzten Endes nichts anderes als« ein Oxydationsvorgang, ein Verbrennungsprozeß sei, sprang plötzlich einer seiner Schüler auf und warf ihm die leidenschaftliche Frage entgegen: »Ja, was hat denn das ganze Leben dann für einen Sinn?«(6) Der Schüler, der diese Frage stellt, ist Frankl selbst.

Vor allem aber setzt Frankl sich intensiv mit Sigmund Freuds Trieb- und Sexualtheorie auseinander, die dieser mit Beginn des neuen Jahrhunderts vielfältig publizierte. Für einige Zeit steht er sogar in intensivem fachlichem Briefwechsel mit Freud. Frankl schickt ihm unter anderem einen psychoanalytisch gefärbten Aufsatz, in dem er ein Kopfschütteln als Ausdruck von Verneinung, als sublimierten Ausdruck des Ekels, und Nicken, als von einer Koitusbewegung abgeleitet darstellt.(7) Diese Interpretationen muß wohl Freuds Zustimmung gefunden haben, denn er lässt diesen Aufsatz 1924, zwei Jahre später in der "Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse" veröffentlichen. Zu dieser Zeit hat Frankl aber bereits mit der Psychoanalyse gebrochen und sich der Individualpsychologie Adlers angeschlossen.

Die Individualpsychologie Adlers – Jugendberatungsstellen

1924 beginnt Frankl sein Medizinstudium. Zur gleichen Zeit wendet er sich der Individualpsychologie Alfred Adlers zu und tritt in dessen Gesellschaft ein. Adler entwickelt seit 1911 die Individualpsychologie – in Abgrenzung zu Freud - als eigenständige Psychotherapierichtung. Im Zentrum von Adlers Menschenbild steht der einzelne Mensch in seinen mitmenschlichen und gesellschaftlichen Bezügen. Er vertritt die Ansicht, dass menschliches Streben nicht wie es Freud sah, triebmotiviert, sondern aus dem Erleben von minderwertig sein und nicht genügen können, geltungs- und machtorientiert sei. Adlers Ansatz prägt stark das erzieherische Denken seiner Zeit. So sind er und seine Schüler wesentlich in die Reformbewegungen des damals sozialdemokratisch regierten „Roten Wiens“ involviert. Die Lehrerausbildung und Reformpädagogik fußt nun auf den Theorien der Individualpsychologie und da vor allem auf deren Auffassung von Entwicklung und Gemeinschaft. Im Rahmen der Wiener Schulreform entstehen rund dreißig Erziehungsberatungsstellen in Wien mit individualpsychologischem Ansatz. In ähnlicher Weise beteiligt sich auch Frankl an der Organisation von Beratungsstellen für Jugendliche zur Suizidprävention. Er veranstaltet Sonderaktionen zur Schülerberatung und reagiert damit auf die Häufung von Schülerselbstmorden im Rahmen der Zeugnisverteilung. Diese Aktionen sind derart erfolgreich, daß die Schülerselbstmordzahlen innerhalb zweier Jahre auf null zurück gehen. Das Ausland wird auf Frankl aufmerksam. Es folgen Einladungen zu Vorträgen nach Berlin, Prag und Budapest. Seine Themen sind Sinnfragen, Suizid und Sexualität. Nach dem Wiener Vorbild entstehen Jugend- und Lebensmüdenberatungsstellen u.a. in Chemnitz (1928), Zürich und Prag (1929).(8)

Lehr- und Praxisjahre als Neurologe und Psychiater 1930 bis 1942

Der eigene Ansatz

1926 wird Frankl eingeladen, auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf ein Grundsatzreferat zu halten. In diesem kritisiert er Adlers Haltung, neurotische Störungen ausschließlich als Kompensation erlebter Ohnmacht und Minderwertigkeit zu interpretieren. Frankl vertritt die Ansicht, neurotisches Verhalten habe nicht nur kompensatorischen, sondern auch personalen Ausdruckscharakter. Diese Differenz zu Adler führt 1927 zu Frankls Ausschluß aus der Gesellschaft für Individualpsychologie.
Damit verliert Frankl das Forum und seine Möglichkeiten, den eigenen Ansatz durch die individualpsychologisch orientierten Zeitschriften zu publizieren. Auf diese Weise in eine fachliche Heimatlosigkeit versetzt, entwickelt er innerhalb der nächsten zehn Jahre diesen eigenständig weiter. Bereits 1938 und 1939 publiziert er mehrere Aufsätze in verschiedenen Fachzeitschriften, in denen er seine grundlegenden Gedanken einer „Psychotherapie vom Geiste her“(9) zum Ausdruck bringt.(10) Bis in den Sprachgebrauch hinein, formuliert Frankl sein Menschenbild in Abgrenzung zu Freud und Adler. So betont Frankl, in seiner Logotherapie gehe es nicht um das Bewußtmachen verdrängter sexueller Strebungen wie Freud sie in den Mittelpunkt seiner Theorie stellt, sonder um das Bewußtmachen von spezifisch menschlichen Eigenschaften. Diese zeigen sich für Frankl in den Fähigkeiten, in denen sich kein Mensch durch einen anderen vertreten lassen kann: nämlich in seinem Freisein zu etwas und seinem Verantwortlichsein für etwas. So setzt er an die Stelle des Willens zur Lust und des Wille zur Macht, den Wille zum Sinn als primäre Motivationskraft des Menschen. Logotherapie sei daher nicht Übertragungsarbeit, sondern Überzeugungsarbeit hin zu einer lebensbejahenden Haltung. In diesem Sinne fordert er vom Arzt und Psychotherapeuten, sich auf eine `weltanschauliche Debatte´ mit dem Kranken einzulassen. Wie eine solche Debatte aussehen könne, dafür gibt Frankl selbst einige Beispiele:
„ Um also, wie gesagt, dem schlichten Menschen des Alltags seine volle Verantwortlichkeit bewußt werden zu lassen, können wir ihn etwa darauf verweisen, wie er mit seinem persönlichen Leid, aber auch mit seinen vielfachen Möglichkeiten, es zu besiegen, ganz vereinzelt dasteht; diesen Herrn X.Y. oder diese Frau N.N. gibt es sozusagen im ganzen kosmischen Geschehen nur ein einziges Mal; und wie er bzw. sie mit ihrem Leben fertig wird, was diese Menschen tun oder auch unterlassen, das alles ist unwiederholbar und endgültig. Diese Menschen stehen mit ihrem Schicksal jeweils einzig da, niemand vermag es ihnen abzunehmen, die Aufgabe, es zu erfüllen, ist einzigartig und exklusiv. Aus diesem Bewußtsein der spezifischen Aufgabe jedes einzelnen folgt dann automatisch das Bewußtsein der Verantwortung ihr gegenüber, ja mitunter geradezu das Gefühl einer gewissen Mission. Nichts aber vermag einen Menschen im Kampfe gegen Schwierigkeiten oder, wenn es darauf ankommt, im Ertragen des Unvermeidlichen stärker zu machen, als eben dieses Gefühl, eine einmalige Aufgabe zu haben und in deren Erfüllung unvertretbar zu sein. Oder aber wir weisen den betreffenden Kranken an, sich einmal vorzustellen, sein Lebensablauf wäre ein Roman und er selbst eine entsprechende Hauptfigur; es läge dann aber ganz in seiner Hand, den Fortgang des Geschehens von sich aus zu lenken, sozusagen zu bestimmen, was im jeweils nächsten Kapitel zu folgen hat. Auch dann wird er statt der scheinbaren Last der Verantwortung, die er scheut und vor der er flüchtet, seine wesenhafte Verantwortlichkeit im Dasein als Freiheit der Entscheidung gegenüber einer Unzahl von Möglichkeiten des Handelns erleben. Noch intensiver können wir schließlich an den persönlichen Einsatz seiner Aktivität appellieren, wenn wir ihn dazu auffordern, sich vorzustellen, er sei an einem Endpunkt seines Lebens angelangt und im Begriffe, seine eigene Biographie zu verfassen; und eben jetzt halte er gerade bei jenem Kapitel, das von der Gegenwart handelt; und es liege nun, wie durch ein Wunder, ganz in seiner Hand, Korrekturen vorzunehmen; er dürfte gerade noch das, was unmittelbar darauf geschehen sollte, ganz frei bestimmen… Auch das Vehikel dieses Gleichnisses wird ihn zwingen, aus dem vollen Gefühl seiner Verantwortlichkeit heraus zu leben und zu handeln….“(11)
Diese `weltanschauliche Debatte´ wie Frankl es nennt, publizierte er bereits 1938 als 33-jähriger im Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete.

Zu diesem Zeitpunkt hat er sich zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie an verschiedenen Kliniken in Wien qualifiziert. Seit 1933 leitet er den sogenannten "Selbstmörderinnenpavillon" den Pavillon 3, im Psychiatrischen Krankenhaus in Wien „Am Steinhof“. Nach seiner eigenen Einschätzung waren es insgesamt zwölfhundert Patienten, die er in dieser Zeit betreute, die meisten depressiv und selbstmordgefährdet.

Ab 1940 bis zu seiner Deportation 1942 leitet Frankl die Neurologische Station am Rothschild-Spital der Israelischen Kultusgemeinde. Dort lernt er seine erste Frau Tilly Grosser kennen, die im Spital als Krankenschwester arbeitete. Am 17.12.41 folgt die Trauung, eine der letzten jüdischen der Wiener Bevölkerung unter dem NS-Regime.
„Das Rothschild-Spital war ein anerkanntes jüdisches Krankenhaus. […] 1938 wurde es eine Notfallklinik für die jüdischen Opfer der Nazigewalt, und nach den zahllosen täglichen Terrorakten waren die Säle, Flure und sogar der Rasen des Rothschildspitals mit jüdischen Verwundeten überfüllt.“(12) An manchen Tagen werden bis zu 10 Patienten eingeliefert, die angesichts der bedrohlichen Situation einen Suizidversuch – meist mittels Schlafmitteln – unternommen haben. Frankls Versuche, sie wieder ins Leben zu holen, sind unter Kollegen umstritten. Er selbst äußert rückblickend dazu: „Ich stehe auf dem Standpunkt, daß auch im Falle eines vor-liegenden Selbstmordversuchs der Arzt nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, ärztlich zu intervenieren. […] Da wurden unter Kollegen Stimmen laut, die mich darauf hinweisen wollten, ich hätte nicht das Recht, Menschen, deren Selbstmordentschluß menschlich so verständlich war […] dem Leben zurückzugeben, sie ins Leben zurück zu reißen. Was ich da tue, sei Schicksal spielen. Ich beharrte jedoch auf meinem Standpunkt - [und…] entgegnete, […] etwa folgendes: Nicht ich will Schicksal spielen, sondern der Arzt versucht Schicksal zu spielen, der einen Selbstmörder seinem Schicksal überläßt. […] Denn wenn es dem "Schicksal" gefallen hätte, den betreffenden Selbstmörder wirklich zugrunde gehen zu lassen, dann hätte dieses Schicksal sicher auch Mittel und Wege gefunden, um den Sterbenden nicht rechtzeitig in die Hände eines Arztes fallen zu lassen. Ist er aber einmal dem Arzt in die Hände gespielt worden, dann hat dieser Arzt auch als Arzt zu handeln und nicht diesem Schicksal, dem "gnädigen" Schicksal, in die Arme zu fallen.“(13)

Unvertretbarkeit 1942 bis 1945

Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn(14)

Sinn entsteht für Frankl da, wo der Mensch sich seiner Unvertretbarkeit bewußt wird und im Bewußtsein dieser Unvertretbarkeit und der Einmaligkeit der konkreten Situation handelt. Diese Unvertretbarkeit war ein Leitfaden in seinem Leben.(15) Er schreibt dazu in der Ärztlichen Seelsorge: "Diese seine Unvertretbarkeit macht seine Verantwortlichkeit für die Gestaltung seines Schicksals aus. Schicksal haben heißt sein eigenes Schicksal haben. Mit seinem einzigartigen Schicksal steht jeder einzelne Mensch sozusagen im ganzen Kosmos einzig da. Sein Schicksal wiederholt sich nicht. Niemand hat die gleichen Möglichkeiten wie er, und er selbst hat sie nie wieder. Was ihm wiederfährt an Gelegenheiten zur schaffenden oder erlebenden Wertverwirklichung, was ihm an eigentlich Schicksalhaftem begegnet - was er nicht ändern kann, sondern im Sinn von Einstellungswerten tragen muß – all dies ist einzigartig und einmalig.“(16)

In diesem Sinne sei die Geschichte vom kleinen Marmorstück hier wiedergegeben. Es zeugt davon, daß Frankl lebte, wie er dachte und umgekehrt.

Die Geschichte vom kleinen Marmorstück

„Ich hatte jahrelang auf ein Visum warten müssen, das mir die Einreise in die USA ermöglicht hätte. Endlich wurde ich kurz vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg schriftlich dazu aufgefordert, im Konsulat der USA zu erscheinen und mir das Visum ausfertigen zu lassen. Da stutzte ich: Sollte ich meine Eltern allein zurücklassen? Ich wußte doch, welches Schicksal ihnen bevorstand: die Deportation in ein Konzentrationslager. Sollte ich also ihnen adieu sagen und sie einfach diesem Schicksal überlassen? Das Visum galt ja ausschließlich für mich! Unschlüssig verlasse ich das Haus, gehe ein wenig spazieren und denke mir: "Ist das nicht die typische Situation, in der ein Wink vom Himmel Not täte?" Als ich heimkomme, fällt mein Blick auf ein kleines Marmorstück, das da auf einem Tisch liegt. "Was ist das?", wende ich mich an meinen Vater. "Das? Ach, das habe ich heute auf einem Trümmerhaufen aufgelesen, dort, wo früher die Synagoge gestanden ist, die niedergebrannt worden ist. Das Marmorstück ist ein Stück von den Gesetzestafeln. Wenn es dich interessiert, kann ich dir auch sagen, auf welches der zehn Gebote sich der eingemeißelte hebräische Buchstabe da bezieht. Denn es gibt nur ein Gebot, dessen Initiale er ist." "Und zwar?" dringe ich in meinen Vater. Darauf gibt er mir zur Antwort: "Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf daß du lange lebest im Lande ... " Und so blieb ich "im Lande", bei meinen Eltern, und ließ das Visum verfallen. Das ist die Geschichte vom kleinen Marmorstück.“ (17)

Unter dem Druck der sich zuspitzenden politischen Lage, begann Frankl mit der Niederschrift seiner Gedanken und Erfahrungen als Arzt und Neurologe unter dem Titel „Ärztlichen Seelsorge“. Er näht das Manuskript in das Futter seines Mantels, damit er es im Falle einer Deportation bei sich habe. (18)

Theresienstadt

Am 25. 09.42 werden Viktor und Tilly Frankl verhaftet und gemeinsam mit seinen Eltern in das Ghetto Theresienstadt bei Prag deportiert. Seine Schwester Stella ist zuvor nach Australien entkommen, und sein Bruder Walter befindet sich mit seiner Frau auf der Flucht in Italien. In Theresienstadt stirbt der Vater nach einem halben Jahr an Lungenentzündung.
Alfried Längle berichtet von einem Erlebnis Frankls aus dieser Zeit, das Frankl ihm einmal persönlich erzählte: „Eines Tages wurde Frankl beim Abendappell […]zu einem Sondertransport bestimmt. Frankl wußte, daß dieser Transport regelmäßig ins Gas ging. […]Was hätte er tun sollen? In den Draht laufen, um durch einen Selbstmord seinem Schicksal zu entgehen? Er, der ein Leben lang dagegen kämpfte, dem Leben die letzte Chance der Gestaltung zu nehmen? […] Er ging zunächst zu seiner Mutter, um sich zu verabschieden. Der Vater war schon tot. Dann zu seiner Frau. [Er…]spazierte […] schweren Herzens […]zur Festung hinan, um den Sonnenuntergang von dort noch einmal zu erleben. Und wie er so ging, wurde ihm bewußt, daß er nun eigentlich alles getan hatte, was er in diesem Leben hatte tun können. Zum ersten Mal gab es keine Verantwortung mehr, […]keinen Entscheidungsnotstand. Die Last des Lebens und die Pflicht seiner Besorgung fielen von ihm ab. Langsam begann sich die düstere Stimmung zu lösen, […] Es war, als ob das Leben von seiner Seite zu Ende gebracht wäre und er es nun aus den Zuschauerrängen betrachten durfte. Was das Leben jetzt noch bringt, ist nicht mehr von ihm zu beeinflussen, ist nicht mehr durch ihn zu gestalten. […] Frankl merkte, daß er auf diesem Spaziergang mit dem Leben abgeschlossen hatte. Es war ihm nun nicht mehr danach, sich zu töten. Ganz im Gegenteil, es kam ein Interesse auf für das, was »dieses Leben noch mit mir vorhat«, […]Gleich dem Zuschauer im Kino interessierte ihn, wie der Schluß des Films sein würde und was das Schicksal an Unvorhergesehenem noch bringen wird. […] Denn solange nicht bewiesen ist, daß der Transport auch tatsächlich stattfindet und ins Gas geht, so lange ist das Leben grundsätzlich offen für alles, auch für das Unwahrscheinlichste. […] Einfach alles fahren lassen, sich nichts mehr vormachen, aber irgendwie, aus einer letzten Würde heraus, warten können; keine Möglichkeit ausschließen, jede Möglichkeit einschließen. […]Das meine ich mit >alle Möglichkeiten offen halten<. Zu stolz dazu sein zu sagen, ich mache nimmer mit, ich mache Schluß. Zu stolz dazu sein! […]Also gar nicht die Situation weiß Gott wie rosig sehen, sondern einfach: wir werden jetzt sehen, was das Scheißleben mit mir vorhat.“(19)

Auschwitz / Kaufering / Türkheim

Am 19. Oktober 1944 wird Frankl von Theresienstadt nach Auschwitz und einige Tage später nach Kaufering gebracht. Im November 1944 meldet er sich freiwillig für das Fleckfieberlager Türkheim, weil er dort als Arzt arbeiten konnte. Er erkrankt dann selbst an dem lebensbedrohlichen Fleckfieber und versucht sich mit der Rekonstruktion seines Manuskriptes der „Ärztlichen Seelsorge“ bei Bewußtsein und damit am Leben zu halten.

Am 27.04.1945 wird er von US-Truppen aus dem Arbeitslager Türkheim befreit und kehrt im August nach Wien zurück. Auf die vergangenen Jahre zurückblickend berichtet er: „Was blieb, war der Mensch, der `bloße´ Mensch. Alles war in diesen Jahren von ihm abgefallen: Geld, Macht, Ruhm; nichts mehr war für ihn sicher: nicht das Leben, nicht die Gesundheit, nicht das Glück; alles war ihm fragwürdig geworden: Eitelkeit, Ehrgeiz, Beziehung. Alles wurde reduziert auf die nackte Existenz. Durchglüht vom Schmerz, wurde alles Unwesentliche eingeschmolzen – der Mensch schmolz zusammen auf das, was er letztlich war: entweder der Irgendeine aus der Masse, also niemand Eigentlicher – also eigentlich Niemand -, der Anonyme, das (!) Namenlose, das `er´ nur mehr war, etwa eine Häftlingsnummer; oder aber er schmolz zusammen auf sein Selbst.“(20)

Neubeginn 1945

Rückkehr nach Wien – Wiederaufnahme der ärztlichen Tätigkeit
Im Herbst 1945 kehrt Frankl nach Wien zurück. Dort erfährt er vom Tod seiner Familie, deren Mitglieder zum größten Teil in den Konzentrationslager ermordet wurden sowie zahlreicher Freunde und Bekannten. Die Wucht der Nachrichten trifft ihn so stark, daß Freunde fürchten, er könne Selbstmord begehen. Sie engagieren sich für Frankl und fordern ihn auf, sich mit seinen Fähigkeiten und Erfahrungen in den Aufbau des Nachkriegswien einzubringen. Er wird noch 1945 zum Vorstand der neurologischen Abteilung der Wiener Poliklinik berufen, an der er dann bis zu seiner Pensionierung 1970 als Neurologe arbeiten und lehren wird. Sie drängen ihn seine Erfahrungen aus dem Konzentrationslager niederzuschreiben und die „Ärztliche Seelsorge“ zu publizieren und sich damit auch zu habilitieren.
In dieser Weise unterstützt und aufgefordert, entwickelt Frankl sofort wieder eine rege publizistische Tätigkeit. Er wird zu Gastvorträgen und Gastvorlesungen innerhalb Europas eingeladen, seine Erfahrungen an Ärzte, Pfleger und interessierte Laien weiterzugeben. Für Frankl beginnt nun eine arbeitsreiche Zeit. Der Alltag füllt sich neben der Lehr- und Reisetätigkeit nun mit der Durchsicht und Beantwortung zahlreicher Briefe, die bald aus aller Welt eintreffen. Seine zweite Frau Elly, welche er 1947 heiratet, unterstützt ihn dabei. Vortragsmanuskripte für Rundfunksendungen und Festreden werden zusammengestellt, getippt und durchgelesen. Neben der `Ärztlichen Seelsorge´ und seinem Erfahrungsbericht aus seiner Zeit im Konzentrationslager erscheinen bis 1947 drei weitere Bücher von ihm, die Vorträge, Vorlesungen und Praxiserfahrungen zur Logotherapie und Existenzanalyse zusammenfassen.

Internationale Verbreitung Anerkennung und Ehrung ab 1950

Seit den 50iger und 60iger Jahren erfolgen auch zahlreiche Einladungen nach Argentinien und in die USA, denen Gastprofessuren und Ehrendoktorate sich anschließen. Vor allem in Nord- und Südamerika stößt der Ansatz Frankls nicht nur in Fachkreisen auf ein breites Interesse. Frankls Bücher werden ins Englische übersetzt, zum Teil veröffentlicht Frankl jetzt auch direkt in englischer Sprache (21). 1970 wird in San Diego/Kalifornien an der "United States International University" ein Lehrstuhl für das Fach Logotherapie geschaffen. Wissenschaftliche Untersuchungen validieren inzwischen die Wirksamkeit der Logotherapie. Weltweit entstehen Institute und Ausbildungszentren für Logotherapie. In Deutschland und Österreich profilieren sich vor allem Elisabeth Lukas und Alfried Längle als enge Schüler Frankls. Aus ihrer Praxiserfahrung heraus erweitern sie den logotherapeutischen Ansatz und führen ihn für den deutschsprachigen Raum fort.

Späte Jahre

„Trotz der Herzmuskelschwäche, an der [Frankl] seit der Deportation ins Konzentrationslager litt, führte er bis zuletzt ein aktives Wissenschaftlerleben. […] Seine letzte Vorlesung hielt [er] im Alter von 91 Jahren […] an der Universitätsklinik Wien. Doch bereits Mitte der 90er Jahre musste er mehrere Male ins Krankenhaus eingeliefert werden. […] Die Ärzte berieten sich mit dem Ehepaar über die Chancen und Risiken einer Bypass¬ Operation. Der 92-Jährige entschied sich dafür. Während dieses letzten Krankenhausaufenthalts blieb seine Frau den ganzen Tag über bei ihrem Mann im Krankenhaus. Damals wusste niemand, dass sie ihrem Mann jeden Morgen seine Gebetsriemen brachte, die Tür des Krankenzimmers schloss und sich davor in den Flur stellte, um darauf zu achten, dass Frankl ungestört blieb. Dort, in der Abgeschiedenheit seines Krankenzimmers, setzte er sich die Lederriemen an und sprach die Worte des jüdischen Morgengebets: "Modeh Ani - Ich danke Dir, lebendiger und ewiger König, dass Du meine Seele zurückgebracht hast in Mitleid - groß ist Dein Vertrauen. " Schließlich rückte die Operation näher, […] Am Dienstag, dem 2. September 1997 starb Viktor Frankl infolge der Herzoperation.“(22)

Viktor Frankl wird auf seinen Wunsch hin im Familiengrab Lion/Frankl im Jüdischen Friedhof am Zentralfriedhof in Wien beigesetzt.

Literatur

Batthyány Alexander, Petzold Juliane, Vesely Alexander 2005; Viktor Frankl, Wien IX Tyrolia Verlag Innsbruck-Wien
Fabry Joseph, Lukas Elisabeth 1995; Auf den Spuren des Logos – Briefwechsel mit Viktor E. Frankl, Quintessenz Verlag, Berlin-München
Frankl Viktor E. 1981; Die Sinnfrage in der Psychotherapie, Piper Verlag, München
Frankl Viktor E. 1985; Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper Verlag, München
Frankl Viktor E. 1996; Zeiten der Entscheidung, Herder Spektrum, Herder Verlag, Freiburg i.Breisgau
Frankl Viktor E. 2002; Was nicht in meinen Büchern steht – Lebenserinnerungen Beltz Verlag, Weinhein - Basel
Frankl Viktor E. 2005; Frühe Schriften 1923-1942, Wilhelm Maudrich Verlag, Wien-München-Bern
Frankl Viktor E. 2007; Ärztliche Seelsorge; dtv München
Klingberg Haddon Jr. 2002: Das Leben wartet auf Dich – Elly & Viktor Frankl; Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien – Frankfurt am Main
Längle Alfried 1998: Viktor Frankl – Ein Porträt; Piper Verlag, München
Zweig Stefan 1989: Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers; Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main

Anmerkungen

(1) Klingberg, 2002;35
(2) Zweig, 1989;14 ff.
(3) Frankl verwendet den Ausdruck Logotherapie in Abgrenzung zu Freuds Psychotherapie. Dabei meint logos; altgrie.: Sinn, Bedeutung, Wort, auch Vernunft. Logotherapie ist also eine Therapie „vom Geiste her“.
(4) Frankl, 2002;1ff.
(5) Längle, 1998; 51 und Klingberg, 2002;63ff.
(6) Frankl, 2007;69ff
(7) Frankl, 2005;21ff.
(8) Klingberg, 2002; 84 und 92
(9) Siehe Anm.3
(10) siehe Aufsätze in Frankl, 2005
(11) Frankl, 2005;170ff.
(12) Klingberg;137
(13) Frankl, 1996; 85ff.
(14) Nach dem Buchtitel: Viktor E. Frankl, 1985 Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn.
(15) (siehe auch Fabry/Lukas, 1995;60ff.)
(16) Frankl, 2007; 129
(17) Frankl, 2002;62ff. siehe auch Längle, 1998 83ff.
(18) Längle, 1998;88
(19) Längle, 1998;89ff
(20) Frankl, 1981;83ff.
(21) Frankls bekanntestes Buch ist Man’s Search for Meaning.
Es wurden bis 1997 über 9 Millionen Exemplare verkauft – die Library of Congress nennt es „one of the ten most influential books in America“, Quelle: www.viktorfrankl.org
(22) Batthyány, Alexander, Petzold Juliane, Vesely Alexander, 2005;54ff.



 

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